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Sickster

 

Thomas Melle

Sickster

Roman, 331 Seiten, erschienen September 2011 im Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin

ISBN-Nr. 978-3-87134-719-1

 

 Als älterer Leser ist man irritiert: sind sie so, die Jüngeren? Sie werden einerseits oft beschrieben als gut ausgebildete, ökonomisch  erfolgreiche, eloquente Menschen, die sich durch nichts erschüttern lassen, andererseits leben sie ohne Rücksicht auf emotionale Bedingungen, unterwerfen sich kritiklos einem ausschließlich ökonomischen Zeitgeist-Diktat. Wie also sind sie, was macht das mit Ihnen?

 

In diesem Roman begegnen wir Thorsten Kühnemund, der aus dem beschaulichen Bad Godesberg ins überdrehte Berlin katapultiert wird und mit 37 Jahren als Marketing-Manager eines Ölkonzerns als erfolgreiche Variante des weltläufigen Gewinnoptimierers im Leben steht, und seinem ehemaligen Mitschüler Magnus Taue, der als der nervöse Supertasker hochbegabt startet, dann aber ohne das notwenige Durchsetzungsvermögen zu haben die künstlerischen Ambitionen so nach und nach begraben hat und weil auch das Geld stimmen muss, die Redaktion des Kundenmagazins jenes Ölkonzerns übernimmt. Sie starten beide in einer Godesberger Jesuitenschule, die „alljährlich eine neue Generation von Gesellschaftsklonen hervorbringt“… „schlussendlich würden sie den Kapitalismus der Eltern und die Schläue der Jesuiten in ideologischer Eintracht möglichst gewinnbringend in die Welt tragen, welche dann gemolken werden könnte nach Belieben und zum Vorteil aller Beteiligten“. „Moralische Fragen wurden als theoretische Logeleien im Religionsunterricht lediglich wahr-, doch selten ernstgenommen“. Traurige Voraussetzungen für ein ganzes Leben – jeder muss auf seine Weise scheitern. Oder doch nicht?

Thorsten wird zum Sexmaniac und Alkoholabhängigen, Magnus verliert sich nach und nach haltlos in schizophrenen Zuständen. Thorstens Freundin Laura – bezeichnenderweise deutlich jünger als er – ist als sein Pendent hilflos seinem getriebenen Leben ausgeliefert, verliert allmählich ihre Hoffnungen und sich selbst und spürt nur noch ihren Körper, wenn sie ihn durch Ritzen malträtiert. Melle beschreibt, seziert geradezu, die gnadenlose Marketing-Welt bis an die Schmerzgrenze deutlich, sie ist auf verstörende Weise verwoben mit dem Privatleben der Protagonisten, die zwar hochintelligent sind, aber in sich selbst keinerlei Halt finden können und sich erst vor und hinter den Mauern der psychiatrischen Abteilung der Berliner Charité wiederfinden. Der Weg dorthin ist lang und voll von alkoholgetränkten Erkenntnissen: „Dieses Sich-nicht-Eingestehen, dass etwas total falsch läuft, dass etwas von Grund auf neu überdacht und anders gemacht werden müsste – das ist uns allen gemein….. und man versucht, jeden krummen Augenblick noch weiter umzubiegen … mit einem Cocktailschwenker in der Hand … ich halte das nicht mehr aus“ schreibt Laura in ihr Tagebuch. Die „Sickster“ landen alle in der Therapie.

Thomas Melle, Jahrgang 1975, gilt als einer der wichtigsten jungen Theaterautoren Deutschlands. Er legt hier seinen ersten Roman vor, in dem er mit schmerzhafter Genauigkeit  und poetischem Wortschatz Lebensweisen diagnostiziert, die – bedenkt man den Anfang – weiter verbreitet sein könnten, als gemeinhin vermutet. Und das ist irritierend, traurig und verstörend. Da hilft auch der slapstickartige Schluss nicht, der möglicherweise signalisieren soll, dass alles nicht so ernst genommen werden darf. Dennoch: eine radikale Zeitdiagnose, lesenswert, aber keine einfache Kost.

8. Dezember 2011/GBW

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