Oberengadin
Schweiz: Stille in Sils Maria und sündige Meile St. Moritz
Vom lieblichsten Ort der Welt, wie Nietzsche Sils Maria im Oberengadin nannte, hinüber zur Alpendestination St. Moritz mit seinem Schiefen Turm
Von Gerd Krauskopf
Während Jimmi alte und neue Schlager auf dem Piano in der Hotelhalle des altehrwürdigen Hotel Edelweiß spielt und zwei Pärchen mit Leichtigkeit über die Tanzfläche schweben, nehmen die letzten Gäste nebenan im mächtigen Jugendstil-Restaurant ihr Abendessen ein. Bereits Friedrich Wilhelm Nietzsche, der gleich nebenan in einem kleinen Häuschen in einer bescheidenen Kammer einige Sommer zwischen 1881 und 1888 verbrachte, speiste ab und an in diesem noblen Restaurant. Zu dieser Zeit war Sils Maria im Oberengadin im ostschweizerischen Kanton Graubünden noch ein kleiner Bauernort, und der mächtige
"Hotelkasten" – wie ihn die hart arbeitende Landbevölkerung nannte – thronte inmitten ihrer
funktionalen Bauernhäuser. Heute kommen Urlaubsgäste in diese lichtdurchflutete Landschaft, die von vielen dreitausend Meter hohen Gipfeln und Gletschern, grünen Tälern, kristallklaren Seen und dunklen Schluchten umgeben ist. Aber auch, um das kleine Engadiner Häuschen mit den winzigen Fenstern und den niedrigen Decken, in dem der Philosoph Nietzsche weilte, zu besuchen. Dort sind sie fasziniert von dem exzellenten und kenntnisreichen Vortrag von Co-Leiter Joachim Jung der Engadiner Außenstelle des Instituts für Kulturforschung Graubünden.
Während die Kutscher einige Schritte weiter am Dorfplatz auf Kundschaft warten, um sie mit ihren Pferdekutschen ins benachbarte – autofreie – Fextal kutschieren zu können, lauschen sie wie viele Neugierige den ungewohnten Klängen von Alphörnern. Dort präsentiert Matthias Kofmehl aus Winterthur mit seinem fünfzehnköpfigen Ensemble spontan ein kleines Konzert, das die Gruppe mit ihren ungewöhnlich langen Blechblasinstrumenten bei ihrem diesjährigen Treffen einstudiert hat.
Nur einen "Steinwurf" von der Ortsmitte entfernt liegt malerisch der Silsersee, der größte im Kanton Graubünden. Auf 1800 Meter durchpflügt planmäßig Europas höchstgelegene Schifffahrtslinie den Alpensee hinüber nach Maloja, dem Übergang ins Bergell. Dass dort bereits italienisch gesprochen wird, registriert man bei Franco Giani, dem Kapitän des winzigen Motorschiffs "Segl-Maria". Wer es besonders romantisch mag, besucht die kleine Halbinsel
Chasté, die mit ihrem Lärchenbestand weit in den See hinein ragt. Dort lässt man sich von der agilen Dr. Mirella Carbone – ebenfalls Co-Leiterin der Engadiner Außenstelle – erklären, warum Nietzsche hier seine langen Spaziergänge inmitten einer ausgedehnten Flora von Knabenkraut, Hauswurz und Türkenbund liebte.
Gänzlich anders ist es dagegen im zehn Kilometer entfernten mondänen Sankt Moritz. Dort fühlt man sich in eine andere Welt versetzt. Inmitten der klaren Bergluft thronen überdimensionale Bauklötze mit ihren teils prunkvollen Grandhotels, die sich an die Hänge schmiegen. Hier feiern im Winter die Schönen und Reichen. Jetzt im Sommer, wenn die Prominenten weitgehend ausbleiben und Wanderer sowie Biker die Straßen beleben, sind die Haute-Couture-Läden wie Gucchi oder Cartier verwaist. Betrieb herrscht allerdings in den Konditoreien Hanselmann und Hauser. Dort hin führt die Stadtführerin Susi Wiprächtiger, um die berühmte Engadiner Nusstorte zu präsentieren.
Mitten aus der Stadt heraus auf einer Fahrt durch das Skigebiet Corviglia mit zwei Umstiegen hoch zum 3056 Meter hohen Piz Nair treffen wir dann doch noch einen prominenten Sportler in der wenig besetzten Gondel. Christian Meili, Viererbob Weltcupsieger von 1992, ist mit seinem
Hund Pablo zu einem seiner Restaurants unterwegs, die er im gesamten Skigebiet Corviglia betreibt. Dabei zeigt der bescheidene Altsportler mit ausgestrecktem Arm auf eine fast senkrechte Wand hinter der Bergstation Munt da San Murezzan, die "Freier Fall" genannt wird. "Bei einem Gefälle von 100 Prozent", und dabei leuchten seine Augen, "beschleunigen die Skifahrer in sechs Sekunden auf 140 Stundenkilometer."
Wieder unten angekommen verschweigt Stadtführerin Susi aber auch nicht, dass im St. Moritzer Ortsteil Brattas der Berg langsam rutscht. Durch den Bergdruck treten immer wieder Risse in den Häusern auf. Und an deren Ende steht der 33 Meter hohe, schiefe Turm von St. Moritz aus dem 16. Jahrhundert, der Turm der einstigen St. Mauritius Kirche. Das Kirchenschiff wurde bereits 1893 abgebrochen. Da sich die Kriechbewegung des Hangs mit zwei Millimeter pro Jahr auf das legendäre 5-Sterne-Hotel Kulm – das auf stabilem Grund steht – nicht stoppen lässt, wird der Spätmittelalterliche Turm regelmäßig mit riesigem Aufwand gerichtet. Er ist jedoch bedrohlich schiefer als sein bekanntes Vorbild in Pisa.
Später auf der Dachterrasse des Hotels Monopol bei einem Glas Champagner, fällt der Blick auf den St. Moritzersee. Dort tummeln sich derweil Kitesurfer, Windsurfer und Segler, die den Malojawind nutzen. Einige Champagnergläser später gibt dann auch unter großem Gelächter in trauter Runde Hoteldirektor Lucas Merckaert die Worte eines älteren Gastes zum Besten: "Wie schön zu sehen, dass sich so viele nette Herren die Zeit nehmen, ihre Töchter und Enkeltöchter hier auszuführen."
Weitere Informationen:
Schweiz Tourismus, Rossmarkt 23, 60311 Frankfurt a.M., Tel. 00800-10020029 (gratis), www.myswitzerland.com
Unterkünfte: Sils Maria und St. Moritz bieten alle denkbaren Unterkunftsmöglichkeiten für jedes Budget, z.B. Hotel Edelweiss, Via da Marias 63, 7514 Sils Maria, Schweiz, Tel. 0041/81/8384343, www.hotel-edelweiss.ch, ÜF ab 145 CHF pro Zimmer in der Nebensaison.
Art Boutique Hotel Monopol, Via Maistra 17, 7500 St. Moritz, Schweiz, Tel. 0041/81/8370405, www.monopol.ch, ÜF 380 CHF pro Zimmer (Verhandlungsbasis).
Bei Aufenthalt ab zwei Nächten sind mit der Engadin Card die Verkehrsmittel der Engadin Busse sowie die gesamten Bergbahnen im Oberengadin kostenfrei zu benutzen.
Anreise: Mit dem Flugzeug oder dem Zug bis Zürich. Von dort mit der Rhätischen Bahn über Chur ins Engadin. Fahrtkosten mit der Rhätischen Bahn pro Person und Strecke 79 CHF.