Venedig

Venedig 

Wenn die Gondeln Schneemäntel tragen  

Winterlicher Canale GrandeDas erste Mal kam ich vor gut vierzig Jahren mit meinem Carman Ghia über den Brenner nach Venedig. Gerade soviel Geld in der Tasche, dass ich mir eine Woche Campingurlaub in Lido di Jesolo leisten konnte. Von Punta Sabbioni aus ging’s mit dem Vaporetti, dem Linienboot, dann mit großem Herzklopfen hinüber nach Venedig. Sie wurde meine Stadt - es war Liebe auf den ersten Blick. Viele Besuche folgten und immer war es Hochsommer. Immer war es schwül und immer war die Stadt voller Menschen.

Piazza San MarcoBis ich irgendwann beschloss, das Venedig der Venezianer besser kennen zu lernen und dem winterlichen Alltags-Venedig den Vorrang zu geben gegenüber der sommerlich überlaufenen Postkartenkulisse.

Heute quäle ich mich schon lange nicht mehr mit dem Wagen über den Brenner, sondern steige nach einem kurzen Flug auf dem Aeroporto Internationale Marco Polo am Lagunenrand entspannt aus und nähere mich auf die schönste Art meiner Lagunenstadt: Auf dem Wasserweg mit dem Vaporetti. Bellissimo!

Und da sitze ich wieder einmal an diesem späten Winterabend und schaue aus dem Bootsfenster auf die Nebelschwaden, die über der Lagune wabern. Wie immer macht das monotone Brummen des Schiffsdiesels angenehm schläfrig. Meine Augen fallen zu, öffnen sich wieder und tasten im Abenddunkel die auftauchenden Positionslichter auf den „palafitti“, den Pfählen, in der Fahrrinne des flachen Meeresbeckens ab.

Und dann sind wie bei jedem Besuch alle Sinne gespannt. Geist und Seele öffnen sich, denn aus dem Nichts tauchen anheimelnd die ersten beleuchteten Fenster von Murano auf, die sich im bewegten Wasser spiegeln. Neben den Gebäuden der bekannten Glasbläsereien tauchen aus den Nebelschwaden nach und nach die unterschiedlichsten Fassaden auf, in Farben wie zartes Ochsenblutrot, Pistaziengrün, Himmelblau und Kürbisgelb. Eine erste Haltestelle in der Nähe einer schlanken Fußgängerbrücke, die die schmale Wasserstraße überspannt.

Mit Getöse haut die Vaporetti im unruhigen Kanalwasser gegen den Kai an der Haltestelle, so dass jetzt auch der letzte schlafende Gast die Augen öffnet.

Nur ein kurzes Anlegemanöver, und weiter geht’s auf dem letzten Stück des Canale di San Marco hinüber zu den winterlich fahlen Lichtern einer Diva mit grandioser Vergangenheit und ungewisser Zukunft. Acht Jahrhunderte lang haben sie als Handels- und Seemacht einzigartig gemacht.

Venedig im Winter

Im Nebel macht das Auge die angestrahlte, mächtige Kuppel von Santa Maria della Salute aus, bevor kurz darauf der Bootsmotor ein letztes Mal zum Anlegemanöver an der gegenüberliegenden Piazza San Marco aufheult. Hier tänzeln vor der fast menschenleeren Prachtmeile der Riva degli Schiavoni die anmutig eleganten schwarzen Gondeln.

Während der imposant mächtige Campanile, der pompöse Dogenpalast und die stolzen Palazzi alle Sinne in Beschlag nehmen, gerät das Anlegemanöver des auf und nieder wippenden Bootes in den Hintergrund. Welt-entrückt erscheint die Dogenstadt um diese Jahreszeit. Um den Dogenpalast herum nur ein paar fahle Lichter, die Souvenirläden sind mit dicken Bretterverschlägen und Rollos verschlossen.

Winterliches VenedigDie Stadt atmet durch, hat bis auf wenige Neugierige ihre wohlverdiente Ruhe. Jetzt ist man mit der ganzen Schönheit allein und fühlt sich in erhabener Stimmung bestätigt, dass Venedig im Winter keine Torheit ist.

VenedigNach einer gut durchschlummerten Nacht ist es schon spät am nächsten Morgen, als ich aus der Hoteltüre trete und in den Himmel blinzele, aus dem vereinzelte Schneeflocken auf die Einkaufsstrasse Calle L.22 Marzo fallen. Die afrikanischen Straßenverkäufer bieten heute ihre gefakten Waren auf Decken unter einem Schirm an, während vereinzelte Gruppen achtlos an ihnen vorbei schlendern.

Gondelfahrt in VenedigDa fällt schon eher die große japanische Touristengruppe auf, die am Campo S. Moisè kichernd in eine Gondel nach der anderen vorsichtig steigen. Dort werden von ihnen zuerst einmal die Plastik-Plüschsitze mit einem Tuch trocken gerieben. Danach setzen sie sich und spannen ihre Regenschirme auf, um nach der ganzen Einstiegszeremonie im Konvoi den Gondel-Serenaden zu lauschen, während die Gondolieri sie geschickt durch die „rii“, die engen Kanäle, schippern. Teilnahmslos lassen sie die Anhäufung der Baudenkmäler an sich vorbei ziehen.

Winterliches VenedigGut gelaunt schlendere ich ziellos über verschneite Plätze. Weiter durch die engen „calli“, die Gassen, steige über unzählige kleine Brücken, die die rund 120 Inselchen im historischen Stadtkern miteinander verbinden. Dabei vermisse ich an manch gewohnten Stellen Fleisch- und Gemüsehändler sowie Bäckereien, die jetzt durch billige Murano-Glas- oder andere Ramschläden verdrängt worden sind. Und dann hat man mir zu meinem großen Ärger noch meine alte bàcaro genommen, meine gemütlich enge, unscheinbare Weinschenke. Fassungslos blicke ich ins Schaufenster eines Maskenladens. 

Kopfschüttelnd mache ich mich auf die Suche nach einem anderen bàcaro. Und da sie nur schwer zu finden sind, frage ich mich von Einem zum Anderen durch, bis ich in einer unscheinbaren Gasse fündig werde.

Winterliches VenedigHätte man mir keinen Tipp gegeben, ich wäre an der schmalen Türe vorbei gegangen. Jetzt trete ich in einen engen Raum mit großem Tresen ein, dränge mich an palavernden Menschen vorbei, die sich scheinbar alle gut kennen und standesgemäß nicht unterschiedlicher sein könnten. Am Tresen erwische ich noch ein kleines Plätzchen, bestelle eine „ombra“, das kleine übliche Gläschen Wein, während meine Augen über die kleinen appetitanregenden Häppchen auf dem Tresen wandern. Ich zeige auf leckeres Stockfischmus, marinierte Sardinen, kleine Tintenfischstückchen und Gemüse und bekomme alles auf kleinen Tellerchen auf den Tresen gestellt. Schöner könnte venezianische Lebensart inmitten von jung und alt nicht sein: Handwerker in Arbeitskluft, Herren in maßgeschneiderten Anzügen und Hausfrauen in dickem Pelz mit Einkaufstasche. Bella Italia!

Winterliche RialtobrückeRundherum satt und weiterhin gut gelaunt - weil köstlich und preiswert gespeist -kann die Rialtobrücke angesteuert werden. Treppauf und Treppab, in aller Ruhe die Sinne schärfen auf der bekanntesten und schönsten Brücke der Welt. Dabei braucht man sich nicht einmal zu einem Logenplatz vorzudrängeln. Geschäftige Venezianer beherrschen jetzt die Szene, nicht das Millionenheer jener Touristen, das sonst für einen Tag in ihrem Leben die Stadt bevölkert.

Nächtliches VenedigAlle paar Minuten kann man am Canale Grande, der vier Kilometer langen Hauptverkehrsstraße, ein Vaporetti besteigen. Kann sich nach Lust und Laune Kanal auf- oder abwärts vorbei an venezianischer Nobilität schippern lassen und entdeckt von dort aus Venedigs berühmteste Meisterwerke. Dabei schmeichelt das winterliche Licht nicht gerade den morbiden Prunkfassaden.

Harry’s BarDafür fällt das weiche venezianische Winterlicht noch weicher durch die milchigen Glasscheiben in Harry’s Bar an der Kirche Santa Maria della Salute, unmittelbar an der Anlegestelle der Piazza San Marco. Ernest Hemingway hat hier den Longdrink „Bellini“ – frische Pfirsiche mit italienischem Prosecco – salonfähig gemacht, den heute Signor Nevio gekonnt einem angelsächsischen Publikum darbietet.

Winterliche Piazza San MarcoVon der Piazza San Marco ist es mit dem regelmäßig verkehrenden Linienboot nur einen Katzensprung hinüber zur Isola di San Giorgio.

San Giorgio Maggiore Der Sonnenuntergang vom Kirchturm San Giorgio Maggiore mit Blick auf die ewigjunge alte Dame, die so viele Geheimnisse hütet, gehört bei jedem Besuch zu meinen schönsten Erlebnissen.

San Giorgio Maggiore Auf dem Rückweg zum Hotel komme ich an diesem Tage wie so oft am schönsten Cafe der Welt vorbei, dem Cafe „Florian“. Heute wie einst ist die Qualität der Erzeugnisse Spitze und wird mit einer Hingabe zelebriert. Fast drei Jahrhunderte lang stets ein beliebter Treffpunkt für große Dichter, Schriftsteller und Politiker.

Cafe „Florian“Ganz allmählich, vom Caféfenster aus kaum merklich, breitet sich der Winternebel über die Lagunenstadt aus. Die Lichter gehen an, ein letzter Prosecco wird bestellt in einem Café, in dem vor vielen Jahrzehnten die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.


Gerd Krauskopf