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Oberstdorf

Eine Alpenüberquerung - in sechs Tagen zu Fuß von Oberstdorf nach Meran

Bahnhof Oberstdorf, Gleis 1, Büro der Alpinschule Oase. Es ist schon warm um elf Uhr an diesem Samstag im Juli. Jetzt ist es also soweit. Mit wem werde ich zu meiner Alpenüberquerung starten? Liegen die Mitwanderer auf meiner Wellenlänge?

„Häng mal den Rucksack an die Waage“ – Artur, neben Anderl einer unserer beiden Bergführer reist mich aus meinen Gedanken. „Knapp elf Kilo – eigentlich sind nur acht erlaubt“, werde ich mit strengem Blick belehrt. Ich verweise auf die gefüllte Wasserflasche und die Wanderstöcke. Artur lacht, den Spruch kennt er zur Genüge, aber er akzeptiert das Gewicht. Ist ja auch reichlich viel für einen 60-jährigen mit schmaler Schulter! Andere haben weniger Glück: bei fünfzehn Kilo muss aus- und umgeräumt werden; alles Überflüssige (zwei große Gläser Honig gehören ja wirklich nicht in einen Rucksack) wird mit Bus nach Meran transportiert. 

Die Alpinschule Oase in Oberstdorf

Bis Spielmannsau fahren wir noch mit dem Kleinbus, dann schultern wir die Rucksäcke für eine kurze Strecke. An der Materialseilbahn zur Kemptner Hütte werden zwei Gruppen eingeteilt. „Sportlich engagierte Wanderer“ und „Landschaftsliebhaber“ sind die angebotenen Alternativen. Ich halte mich für sportlich und werde dies bald bereuen. Wir gehen ohne Rucksäcke los. Es wird merklich schwüler, die Guides haben längst erkannt, dass ein Gewitter droht, und legen daher ein für mich ungewohntes Tempo vor. Ich erahne es: das ist nicht mein Tag! Es geht zunächst steil bergauf bis zu einer kleinen Wegkapelle, die ursprünglich Pilger aus dem Lechtal vor über 350 Jahren errichtet haben sollen. Trinkpause – es beginnt leicht zu regnen. Der wilde, enge Sperrbachtobel erfordert vorsichtiges Gehen, Holzstege helfen beim Überqueren der Bäche, die zahlreichen verschlammten Altschneereste werden behutsam begangen.

Auf dem Weg zur Kemtner Hütte, vor dem Sperrbachtobel

Es regnet jetzt nicht mehr, aber die Luftfeuchtigkeit ist sehr hoch und macht mir zu schaffen. Weiter oben wird der Weg wieder flacher und nach zweieinhalb Stunden erreichen wir die Kemptner Hütte, 1.844 m, unser Tagesziel. Der betörende Duft von einigen hundert Bergstiefeln erwartet uns hinter dem Eingang. Die Alpenvereinshütte ist mit über dreihundert Alpinfreunden heute stark belegt.

Für uns ist alles bestens organisiert: wir logieren in gemütlichen 5-Bettzimmern und verbringen bei leckerem Essen einen netten Abend zusammen. Ich stelle zu meiner Beruhigung fest, dass auch anderen Wanderfreunden die Augen schon früh zufallen.

Die Kemptner Hütte

Das Gewitter ist am Nachmittag mit viel Regen wirklich gekommen. Am nächsten Morgen scheint die Sonne und alle sind wieder fit. Ich bitte darum, die Gruppe wechseln zu können; nach dem anstrengenden Vortag fühle ich mich doch eher als Landschaftsliebhaber. Artur nimmt mich gerne auf. Nun sind wir für den Rest der Tour ein Team: Karin und Klaus mit ihren Kindern Helge, neun Jahre und Amelie, zwölf Jahre alt, Petra und Thomas, Heike, Hanna, die beiden jungen Paare Nadine mit ihrem Marco sowie Anne und Lutz. Halt, noch einer ist immer dabei: Jack, der Australien Cattle Dog, Arturs treuer Freund.

Schnell ist die Landesgrenze zu Österreich am Mädelejoch, 1.974 m, erreicht und wir steigen steil zur Roßgumpenalm ab. Wir werden schon erwartet und nach einer Trinkpause geht´s weiter durch das Höhenbachtal an den imposanten Simmser Wasserfällen vorbei nach Holzgau im Lechtal. 

Die Kirche in Holzgau (links); auf dem Mädelejoch (rechts)

Wir lassen uns im Gasthof Bären zu einer frühen Mittagspause nieder und ich erlebe etwas Wunderliches: auf der Toilette wird der Sonntagsgottesdienst via Lautsprecher live übertragen!

Die wohlbeleibten Fahrer des Taxiunternehmens Feuerstein in Holzgau machen eigentlich einen gemütlichen Eindruck auf mich. Der Schein trügt gewaltig! Das urtümliche Madautal wird Schauplatz einer Höllenfahrt, der schmale Fahrweg wird in maximalem Tempo genommen, uns begegnende Wanderer tun gut daran, den Weg ohne weiteres Nachdenken freizumachen. Das gute Mittagessen im „Bären“ war für eine Wanderfreundin unserer Gruppe nach dem Trip in dem roten Kleinbus eine Fehlinvestition.

Wieder erleichtert uns der Materialaufzug zur recht einfach gehaltenen Memminger Hütte, 2.242 m, den Aufstieg – die rund 800 Höhenmeter sind auch ohne Rucksack kein Pappenstiel. Ich fühle mich aber deutlich besser als am Vortag.

Bei warmem Wetter kommen wir nach sechsstündiger Gesamtwanderzeit an und beziehen unser Quartier: ein Matratzenlager.

Eine kleine Wanderung zum nahegelegenen Seewiessee ergibt für mich einige schöne Fotomotive. 

Abendstimmung an der Memminger Hütte

Karin und Klaus zieht es mit den Kindern, die die gesamte Tour bravourös gemeistert haben, noch auf den 2.412 m hohen Seekogel.

Die Nacht wird relativ ruhig: keiner schnarcht und die Toilettengänge halten sich in erträglichen Grenzen. Dies wird auch in den kommenden Nächten so bleiben.

Ganz früh am nächsten Morgen versetzt uns ein prächtiger Sonnenaufgang in die richtige Wanderlaune.

Uns ist klar, der dritte Tag wird mit neun Stunden reiner Gehzeit eine echte Herausforderung.

Der Aufstieg auf die 2.599 m hoch gelegene Seescharte ist im oberen Teil etwas ausgesetzt und erfordert ein wenig Kletterei. Artur passt wie immer gut auf uns auf. Jack ist längst oben und beobachtet unsere Bemühungen, wie Alpinisten zu wirken.

Der Blick zurück in Richtung der Memminger Hütte und nach vorn ins unberührte Lochbachtal entschädigen für die Mühen des Aufstiegs.

Auf der Seescharte, 2599 m

Der Abstieg verläuft zunächst wieder in sehr steilem Fels- und Geröllgelände. Doch das Landschaftsbild verändert sich – grüne Wiesen kontrastieren mit dem Grau der Felsen um uns herum. Die Hitze macht uns sehr zu schaffen, erst nach vielen Gehstunden erreichen wir eine Alm für die Mittagsrast. Ein deftiges Käsebrot und zwei Skiwasser bringen mich wieder in Schwung.

Der erneute Steilabstieg durchs Zammer Loch wird ungemütlich, die Füße schmerzen und der Rucksack drückt nach dem überaus langen Weg ins Tal. Nach über sieben Stunden Wanderzeit kommen wir müde und vor allem ausgedörrt in Zams an. Artur verspricht uns eine erfrischende Quelle und hält wieder sein Wort. Für die kleine Kapelle nebenan hat wohl niemand einen Blick – alle stillen gierig ihren Durst. Selbst Artur, der Unverwüstliche, scheint etwas geschafft und auch Jack, unser treuer Wegbegleiter, freut sich über die Erfrischung.

Für die ganz Harten steht jetzt noch, nach einer Auffahrt mit der Venetbahn auf den Krahberg, eine zweistündige Wanderung zur Larcheralm auf dem Tagesprogramm. Da die Rucksäcke von Zams mit dem Großraumtaxi zur Alm befördert werden, melde ich mich zur Mitfahrt an. Zu meinem Erstaunen wird der Wagen schnell voll: auch Petra, Nadine, Anne und Lutz steigen ein, Helge und Amelie sind nach gutem Zureden auch dabei.

Die Larcher Alm

Herrlich, Almbäuerin Anni hat den holzgeheizten Boiler in Betrieb genommen und wir können warm duschen!!! Der unermüdlich wandernde Rest der Gruppe ist noch in ein Gewitter geraten und freut sich auf die redlich verdiente Dusche und die legendären Kässpatzen, die in riesigen Eisenpfannen direkt vom Ofen auf unserem Tisch landen. Da wir die kleine Hütte mit dem behaglichen Nachtlager allein bewohnen, wird der Abend mit Rotwein, Bier, Williams und netten Gesprächen ausgesprochen gemütlich.

Das klasse Frühstück am nächsten Morgen mit selbstgebackenem Kuchen, Frischkäse aus der hauseigenen Produktion, Speck und Bauernbrot wird bei herrlichem Wetter draußen eingenommen – ein Mitwanderer hat partout keinen Hunger, einer dieser leckeren kleinen Williams war wohl gestern Abend schlecht!

Frühstück auf der Larcher Alm

Der Abstieg nach Wenns im Pitztal wird gut gelaunt auf einem Wirtschaftsweg in flottem Tempo angegangen; die Blasenpflege vor dem Aufbruch war dank der High-Tech-Pflaster erfolgreich. Nach kurzer Pause bringt uns der Postbus nach Mittelberg und von dort laufen wir weiter zur Gletscherstube. Die eigentlich vorgesehene Mittagspause wird verkürzt – Artur erwartet bei den warmen Temperaturen wieder ein Gewitter am Nachmittag.

Also los, die Rucksäcke werden erneut in den Materialaufzug verladen und der Aufstieg zur Braunschweiger Hütte, 2.759 m, beginnt. Die rund 1000 Höhenmeter in steilem Gelände erfordern wieder viel Kraft. Der neue Gletscherpfad führt uns in die grandiose Welt der Ötztaler Alpen, der rund neun Quadratkilometer große Mittelbergferner ist immer in Sicht.

Blick auf den schrumpfenden Mittelbergferner

Nach über zweieinhalb Stunden sind wir an der Hütte angelangt und beziehen unser Matratzenlager.

Ich glaube dem Gerücht, dass man hier oben auch warm duschen kann und kaufe mir für zwei Euro einen Chip. Thomas ist vor mir dran und grinst. Er kennt das Spiel, das mich erwartet. Das Wasser erwärmt sich für fünf Minuten um gefühlte ein Grad und ich schnattere genau so wie mein Vorduscher. Spaß muss sein!

Petra und Thomas kennen die Hütte von einer Besteigung der Wildspitze, auf der ich vor über 35 Jahren auch schon einmal gestanden habe, damals sind wir allerdings von der Breslauer Hütte aufgestiegen. Thomas zeigt mir die winzige Hauskapelle, in der an den im Jahre 2005 bei einer Tour tödlich verunglückten Hüttenwirt Franz Auer erinnert wird. Die beiden haben Auer noch persönlich kennengelernt.

Der nächste Tag, wieder haben wir ein herrliches Wetter. Wir steigen in knapp zwei Stunden zum Pitztaler Jöchle, 2.996 m, auf, die Luft wird merklich dünner. Im Schlussanstieg ist der Pfad wieder etwas ausgesetzt, aber zwischenzeitlich sind wohl alle trittsicher. Oben angekommen erwartet uns mit dem Blick auf die Mondlandschaft am Rettenbachferner ein schockierendes Bild: die Natur wird systematisch und großflächig für den ganzjährigen Skibetrieb zerstört! Wir sind sprachlos.

Doch zunächst gilt es wieder aufmerksam zu sein für den Abstieg durch ein steiles Schneefeld. Artur instruiert die Gruppe, wie gegangen werden muss: Stöcke voran und die Fersen fest in den weichen Schnee gedrückt. Das Sicherungsseil kann unser Bergführer im Rucksack lassen – alle kommen ohne Abrutschen unten an.

Leider müssen wir in der Ödnis des Skizentrums auf einen Bus warten, der uns in kurzer Fahrt durch einen Tunnel zur Tiefenbachseite des Ötztales bringt. Zu allem Überfluss werden wir auch noch mit DJ-Ötzi-Songs zwangsbeschallt. Eigentlich fehlt nur noch der Jagertee.

Die Zerstörung der Natur am Rettenbachferner

Die anschließende herrliche Wanderung über den Panorama - Höhenweg mit freiem Blick auf die Ötztaler und Stubaier Alpen nach Vent entschädigt uns für das Negativerlebnis.

Nach einer Gehzeit von insgesamt sechs Stunden kommen wir in dem Bergsteigerdorf an. Das gepflegte Vier-Sterne-Hotel „Post“ ist ein gewöhnungsbedürftiger, aber durchaus angenehmer Kontrast zu unseren bisherigen Bergsteigerunterkünften.

Kaum zu glauben, heute bricht für uns schon der letzte Wandertag an. Entspannt, gut ausgeruht und ohne Rucksack, geht’s es auf einem wenig steilen Weg bei sehr freundlichem Wetter bergauf zur Martin-Busch-Hütte, 2.527 m.

Der Aufstieg zur Martin-Busch-Hütte

Nach kurzer Rast steht der allerletzte Aufstieg, jetzt wieder mit vollem Gepäck, zur Similaun-Hütte an. Mit 3.019 m wird dies der höchste Punkt sein, den wir erreichen. Gut zwei Stunden gehen wir noch über Platten, Geröll und einen mit Steinen übersäten Gletscher zur privat geführten Hütte in der Nähe der Ötzi Fundstelle am Hauslabjoch. Beim Überqueren einer der Bachläufe passiert es: Thomas, der so sichere Berggeher rutscht auf einem lockeren Stein aus landet im eiskalten Wasser. Seiner guten Stimmung schadet es offensichtlich nicht. Er zieht sich um und weiter geht es!

Vor uns tragen vier Biker ihre Räder über den Similaungletscher zur Hütte hoch. Wir können es nicht fassen!

Mit Blick auf den fast wolkenfreien Similaun, 3.606 m, kommen mir die Erinnerungen an die Zeit vor bald vierzig Jahren hoch. Da stand ich mit meinen alten Freunden Gerd und Werner auf dem Gipfel dieses schönen und unschwer zu besteigenden Berges. Schade, dass die beiden diesmal nicht dabei sein können. Ich schicke ihnen ersatzweise eine SMS.

Der Similaun. 3.606 m

Nach einer Pause auf der mittlerweile schmucken Hütte, die hatte ich noch ganz anders in Erinnerung, ist beim sehr steilen Abstieg durch die Felsregion auf der nunmehr italienischen Seite Vorsicht geboten. Später wird der Weg über die satten grünen Bergwiesen mit Blick auf den unwirklich blauen Vernagtstausee angenehmer – doch 1.200 Höhenmeter Abstieg müssen bis zum Endpunkt unserer Alpenüberquerung, dem uralten Tisenhof, bewältigt werden.

Der Tisenhof

Da bei der Oase augenscheinlich immer alles funktioniert, steht der Bus pünktlich für die Fahrt nach Meran bereit.

Nach dem gemeinsamen Abendessen im Hotel verbringen wir noch ein paar schöne Stunden in der Altstadt Merans und schwelgen in Erinnerungen.

Am nächsten Tag geht es dann gemeinsam mit dem Bus über den Reschen- und Fernpass zurück nach Oberstdorf.

Was bleibt?

Eine herrliche, schweißtreibende Wanderwoche bei tollem Wetter mit netten Menschen. Gemeinsam sind wir fast 4.700 Höhenmeter auf- und über 6.000 in einer atemberaubend schönen Natur abgestiegen. Erst im Laufe der Woche stellte sich mehr zufällig heraus, dass drei MedizinerInnen, Lehrerinnen, Verwaltungsmenschen und Studenten dabei waren und sich gegenseitig dabei unterstützt haben, die körperlichen Anstrengungen jeden Tag aufs Neue zu meistern.

Unsere Wandergruppe

Mein persönlicher Dank geht an Artur, unseren Guide, Diplomphysiker und Bergbauernhofbesitzer, der mit seiner ruhigen und bestimmten Art uns jederzeit sicher geführt und täglich neu motiviert hat.

Rainer Schwirtzek

Info:

Oase-AlpinCenter, Bahnhofsplatz 5, 87561 Oberstdorf, Telefon: 08322 7538

www.oase-alpin.de

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